Verfall von Urlaubsansprüchen bei längerer Erkrankung
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg und das Bundesarbeitsgericht (BAG) haben dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage vorgelegt, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat. Sie beanspruchten die Auslegung, wonach der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf.
Der EuGH hatte entschieden, dass ein Arbeitnehmer die ihm gemäß dem Unionsrecht zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den nicht genommenen Urlaub automatisch nicht schon allein deshalb verliert, weil er vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses (oder im Bezugszeitraum) keinen Urlaub beantragt hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteile vom 06.11.2018, Az. C-619/16 sowie C-648/16) verfallen die Urlaubsansprüche grundsätzlich nur dann zum Ende des Kalenderjahres gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) oder des Übertragungszeitraums gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG, jetzt auch nach der Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 19.02.2019, Az. 9 AZR 541/19), wenn
a. der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf den noch nicht genommenen Urlaub aufmerksam gemacht hat und
b. ihn aufgefordert hat, seinen Urlaub zu nehmen sowie
c. ihm darüber hinaus klar und rechtzeitig mitgeteilt hat, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht nimmt.
Im Falle einer fortdauernden Arbeitsunfähigkeit galt nach bisheriger Rechtsauffassung des BAG, dass die Urlaubsansprüche „ohne Weiteres mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres (15 Monatsfrist)“ verfallen.
Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH (Urteile vom 22.09.2022, Rechtssachen C-518/20 und C-727/20) hat das BAG seine Rechtsprechung weiter entwickelt (BAG, Urteil vom 20.12.2022, Az. 9 AZR 245/19). Danach gilt, wenn ein Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres ununterbrochen bis zum 31. März des zweiten Folgejahres arbeitsunfähig erkrankt ist, dass seine Urlaubsansprüche mit Ablauf der 15-Monatsfrist zum 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer darauf hingewiesen hat – verfällt.
Hat aber der Arbeitnehmer in dem Urlaubsjahr noch gearbeitet, bevor er krank geworden ist, verfallen die Urlaubsansprüche aus diesem Jahr nur dann, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist.
Ein automatischer Verfall von Urlaubsansprüchen kann somit nicht mehr angenommen werden.